In der Architektur spiegeln sich immer die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Landes oder einer Stadt wieder.
Unser Stadtbad, dass als Projekt am 10. April 1919 als Arbeitsbeschaffungsgelegeheit im Rahmen der Demobilmachung auf den Tisch der Entscheidung gelegt wurde und bis zu seiner endgültigen Inbetriebnahme im Februar 1928, macht dies besonders deutlich.
Das Lichtenberg bereits vor dem 1.Weltkrieg ernsthaft über den Bau einer Badeanstalt nachgedacht hat ist unbestritten. Schließlich wurde die Stadt ständig daran erinnert, dass für die stetig steigende Bevölkerungszahl nicht ausreichende Bademöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Wie wir aus der Aktenlage wissen, wurde bereits ein Grundstück in der Gürtelstraße/Ecke Wiesenweg zum Bau einer Badeanstalt mit einem Schwimmbecken ins Auge gefasst. Als jedoch am 10. Mai 1914 das Stadtbad in Neuköln mit zwei Schwimmhallen und diversen Wannen-, Brause- und medizinischen Bädern eröffnet wurde, hatte man das Projekt verworfen und sich an den Besucherzahlen und der Ausstattung vom Stadtbad Neuköln orientiert. Man wollte das Projekt „Volksbad“ ebenso auf gleichgroße Füsse stellen. Es ist also davon auszugehen, dass das Projekt Volksbad Lichtenberg bzw. Stadtbad Lichtenberg im eigenen Stadtbauamt entwickelt wurde. Wir halten auch deshalb an dieser These fest, weil die meisten Volksbadeanstalten in den entsprechend einschlägigen Zeitschriften ausgeschrieben wurden oder durch die entsprechenden Verwaltungen angekündigt wurden. Anhaltspunkte dafür wurden bis jetzt nicht gefunden. Ebenso ist natürlich auch die Lage und Größe des zu bebauenden Grundstücks von entscheidender Bedeutung gewesen. Da der Kauf des Grundstücks zwischen Atzpodienstraße und Hubertusstraße, gegenüber dem Oskar-Ziehten-Krankenhaus erst zum Ende des 1. Weltkrieges zu Stande kam, kann das Projekt nach unserer Auffassung auch erst 1918 im eigenen Bauamt entwickelt worden sein. Im Berliner Stadtarchiv findet man unter der Registriernummer A Rep.047-02 Nr. 33 DS134 die Vorlage betreffend der Erbauung einer Volksbadeanstalt mit Erläuterungsbericht. Unterschrieben vom damaligen Baustadtrat Uhlig der gleichzeitig als Magistratsvertreter um Genehmigung in der Stadtverordneten-Versammlung bat. Am 17.04.1919 wurde dann in der Stadtverordneten-Versammlung der Beschluss zum Bau der Volksbadeanstalt angenommen.
Damit konnte der Bau begonnen werden. Auf dem Tisch lag die Planung einer Anstalt die im Grunde genommen noch nach den neoklassizistischen Richtlinien des Bäderbaus entworfen wurde. Hier die Rekonstruktion der Vorderansicht aus dem Jahr 1919.
Erster Planungsentwurf
Die meisten Fenster und Türen wurden noch im typischen Berliner Rundbogenstil und der Haupteingang noch zu ebener Erde geplant. Über diesen Eingang sollte man in einen kleinen Innenhof mit Springbrunnen von dem man, nach rechts in die Frauenschwimmhalle und nach links in die Männerschwimmhalle gelangen. Beide Hallen wurden mit einem Tonnengewölbe überdeckt. Im Mittelbereich des Gebäudes sollten sich im Erdgeschoss die Wannenabteilung und die Verwaltungsräume, im ersten Obergeschoss die Duschabteilung mit Wannnenbädern und im zweiten Obergeschoss die medizinische Abteilung mit Römisch-Irischer-Sauna befinden. Zu erwähnen ist noch, dass hinter der Frauenschwimmhalle die Beamtenwohnungen mit dem Eingang von der Atzpodienstraße vorgesehen waren.
Schon zum Ende des 1. Weltkrieges veränderte sich im starken Maße die Energiesituation. Kohlen konnten kaum noch beschafft werden und deshalb mußten viele Badeanstalten geschlossen werden und manche für immer. Die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder und die Badefachmänner empfahlen daher den Badeanstaltsbesitzern sich nach alternativen Energien umzusehen. Bevorzugt sollten Möglichkeiten der Abwärme von Betrieben und Einrichtungen genutzt werden. Für das Volksbad Lichtenberg beabsichtigte man die Energiezufuhr aus der Spritbank AG aus der Herzbergstraße heranzuführen. Dieses Projekt wurde im November 1919 erarbeitet.
Darstellung der Leitungsführung mit Höhenangaben
Die politischen Verhältnisse im Jahr 1919 verschlechterten sich immer mehr. Bereits Anfang des Jahres 1919 wurde mehrfach zum Generalstreik aufgerufen, die Folge: der Belagerungszustand wurde über Berlin verhängt. Am 3.März begannen die Märzkämpfe in Lichtenberg, die mit Hinrichtungen von mehr als 1200 Personen verbunden waren. Gleichfalls stieg die Zahl der Arbeitslosen immer mehr an. Im April waren es bereits 300000 Arbeitslose die registriert wurden.
Was wirklich im Jahr 1919 am Stadtbad gebaut wurde konnte bis jetzt nicht nachgewiesen werden, bekannt wurde jedenfalls, dass zum Jahresende jegliche Arbeiten eingestellt wurden weil Baumaterialien zum Wohnungsbau benötigt wurden und die Baupreise gewaltig durch die Decke gingen. Die noch vorhandenen Ziegeleien konnten den Bedarf für öffentliche Gebäude und Wohnungsbau nicht decken. Weiterhin war die Kohlenbeschaffung ein großes Problem und wenn sie zu bekommen waren mußte man den 5fachen Preis gegenüber den zu Friedenszeiten zahlen. Die Folge: Die Berliner Schwimmhallen mußten geschlossen werden! Nur das Stadtbad Neuköln konnte seinen Badebetrieb aufrecht erhalten weil die benötigte Energie von der benachbarten Pumpstationmaschinenanlage bereit gestellt wurde.
1920 kam es dann zur Eingemeindung von Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg Neuköln, Spandau, Lichtenberg, diverser Landgemeinden und Gutsbezirken. Lichtenberg wurde dann noch mit den Dörfern, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf usw. erweitert. Das Stadtgebiet vergrößerte sich somit von ca. 65qkm auf ca. 875qkm. Somit war Groß-Berlin flächenmäßig die zweitgrößte und nach Einwohnerzahl die drittgrößte Stadt mit ca. 3,8 Millionen Einwohnern. Damit fehlte natürlich im Osten Berlins die Möglichkeit ein Bad in einer Badeanstalt zunehmen. Es wurde daher das bereits angefangene Volksbad als dringend auf die Liste der zu errichtenden Gebäude gestellt.
Erst im Sommer 1925 kam der Bau einer Volksbadeanstalt in Lichtenberg in Fahrt. Die Bevölkerungszahl in Lichtenberg wuchs zwischenzeitlich auf ca. 200.000 Bewohner an und Eile war geboten, denn die hygienischen Verhältnisse, die man bislang fast in den Griff bekommen hatte, verschlechterten sich zusehends. Die bereits von Lichtenberg angefangene Planungstätigkeit sollte auf Beschluß von Groß-Berlin in Lichtenberg weitergeführt werden. Bereits 1922 wurden die Planungen überarbeitet. Der Berliner Rundbogenstil wurde verworfen.
Die sich veränderten wirtschaftlichen Bedingungen veranlassten die Planer des Bades im Bauamt Berlin und im Bauamt Lichtenberg über eine sehr sparsame Ausführung des Bauvorhabens nachzudenken. Wer diese Personen waren, konnte in den Akten noch nicht nachgewiesen werden. Bekannt ist lediglich, dass im Bezirk die Bildung einer Kommission zum Bau einer Volksbadeanstalt beschlossen wurde. Nachweislich sind es die Herren Rudolf Gleye als Stadtbaurat, Otto Weis als Magistratsbaurat und Gerhard Mensch als Bauingenieur. Letzterer war ausgewiesener Spezialist für die moderne Stahlskelettbauweise, der seine Handschrift unter anderem in Berlin-Köpenick im Kabelwerk Oberspree hinterließ. Im Stadtbad Lichtenberg wurde von ihm die Statik nachgewiesenermaßen beider Schwimmbecken angefertigt.
Die neue Stahlskelettbauweise brachte für die weitere Planung des Stadtbades ungeahnte Möglichkeiten. Sowohl für die Errichtung des Bauwerks als auch für die Ausgestaltung der Anlagentechnik konnten die Planer ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Damals und besonders bei diesem Bau gab es noch keine Trennung von Baukunst und Haustechnik. Und so entstand ein Baukörper mit einer hoch komplexen Funktionalität, die durch einen integrativen Geist entworfen und zu einer baukünstlerischen Einheit im Stile jener nervösen Zeit expressionistisch geformt wurde.
Betrachtet man nun in aller Nüchternheit die einzelnen Abteilungen, so wird man leicht feststellen, dass überall eine hohe Funktionalität herrscht, aber man fragt sich doch, wo liegen eigentlich die Versorgungsleitungen der einzelnen Medien wie Wasser, Abwasser, Heizung, Lüftung und Elektro? Nun – dem Planer und eingeweihten Fachmann erschließt sich die Genialität der Verteilung aller Medien: in unzähligen Kanälen und Steigesträngen innerhalb des Mauerwerks und daneben wurden – immer zugänglich – sämtliche Leitungen und Rohre dem Auge entzogen. Selbst die so lästigen obligatorischen, heute so einfallslosen Blechkanäle der Lüftungstechnik wurden so angebracht, dass diese dem Betrachter kaum auffallen. Farbige Hallenfenster aus buntem Kathedralglas gaben und geben dem Raum der beiden Schwimmhallen eine repräsantative nahezu güldene Atmosphäre.
Die meisten Baustoffe, die eingesetzt wurden, standen für geringe Wartung, zweckmäßige Beschaffenheit und große Haltbarkeit. So wurde zum Beispiel die Baukeramik in den Schwimmhallen, Duschen, Wannen- u. Saunabereichen überwiegend mit Baukeramik der Firma Siegersdorfer Werke, die Bekleidung der Schwimmbecken und die der Eingangshalle von der Firma Villeroy & Boch geliefert. Beide Firmen waren zur damaligen Zeit führend in der Herstellung von Baukeramik. Das Fußbodenmaterial wurde aus den Steinbrüchen aus Solnhofen in Form von Platten verarbeitet und Eisenklinker auf Grund ihrer geringen Wasseraufnahme in den Hallenumkleide- u. Eingangsbereichen eingesetzt. Zahlreiche Schmuckelemente im Außenbereich sollten wie Sandstein aussehen: aber man verwendete Beton, der mit entsprechenden Zusatzstoffen und der entsprechenden Oberflächenbehandlung eine preislich günstigere Alternative bot. Die vier startenden Schwimmerinnen über dem Haupteingang des Bades verdeutlichen dies recht anschaulich.
Zum Ende des jahres 1925 lag die Planung des modernsten und zweckmäßigsten Bades von Europa auf dem Tisch: zwei Schwimmhallen für jeweils Frauen und Männer, eine Wannen- u. eine Duschabteilung, eine medizinische Abteilung mit Sauna und diversen speziellen Wannenbädern, ein Sonnenbad auf dem Dach, ein Friseursalon im Keller und vier Wohnungen für das technische Personal. Die Warmwasserversorgung wurde vom Heizwerk des in unmittelbarer Nähe stehenden Oskar-Ziehten-Krankenhauses bereitgestellt. Die Bautätigkeit konnte allerdings auf Grund des Bauarbeiterstreikes nicht begonnen werden. Erst zum Ende des Jahres 1925 fanden die Gewerkschaften eine Einigung. Nach dem Winter 1925/1926 wurden die Bauarbeiten fortgesetzt.
Ein ähnliches Bad in jener Zeit war das Wiener Amalienbad. Es hatte fast die gleiche Ausstattung und ging bereits 1926 in Betrieb. Der Hauptunterschied zwischen diesen Bädern bestand darin, das das Amalienbad nur eine Schwimmhalle besaß und wegen der eigenen Kohleheizung als unwirtschaftlicher als das Lichtenberger Bad galt.
Fotos Amalienbad von 2015 – Dieses Bad wurde zwischen 1979 und 1986 komplett rekonstruiert
Und noch ein stilistischer Unterschied ist zu erwähnen: das Lichtenberger Volksbad entstand im Umbruch zur neuen Moderne; die Architektur wurde vom Expressionismus bestimmt und findet sich in vielen Elementen der Ausstattung wieder. Eine spezielle Variante ist der sogenannte Backstein-Expressionismus, wie ihn die Planer des Volksbades Lichtenberg besonders in der Männerschwimmhalle anklingen ließen. Damit ist es ein einzigartiges Denkmal expressionistischer Baukunst und ein Musterbeispiel handwerklicher Perfektion jener Zeit.
Im Übrigen könnten die vier startenden Schwimmerinnen, als sie von Ludwig Isenbeck entworfen und am Gebäudeeingang montiert wurden, auch als ein Symbol der Hoffnung und des Neuanfangs nach dem 1. Weltkrieg verstanden werden.
Als am 02.02.1928 das Volksbad feierlich eröffnet wurde, hatte Groß-Berlin den Lichtenbergern das modernste und schönste Bad zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Zwischenzeitlich vergingen neun Jahre vom ersten Spatenstich bis zur Übergabe. Rechnet man aber die reine Bauzeit, die eigentlich erst im Frühjahr 1926 in Fahrt kam und offiziell eben am 02.02.1928 sein Ende fand, so wurde das Volksbad eigentlich innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt. Die Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen. Im Eröffnungsjahr wurden insgesamt 311000 Schwimmbäder, 95000 Wannenbäder, 41000 Brausebäder und 16000 Heilbäder verabreicht.
Die letztendliche Fassung der Außenfassade wurde dann wie folgt aufgezeichnet.